Herve le Tellier: Die Anomalie

Rezension von Rina Schölzel in der Kategorie Buchtipps

Nach dem 11. September 2001 sollte es für jede denkbare Situation im Flugverkehr ein Handlungsprotokoll geben. Und auch für jede undenkbare. Dieses Protokoll kommt jetzt zum Einsatz, denn das Undenkbare ist eingetreten. Ein Flugzeug, alle Passagiere, die Crew, haben sich dupliziert. Oder wurden dupliziert. Oder.. was? Auf dem Paris-New York fliegt eine Boeing im März 2021 in ein Ungetüm von Cumulonimbus. Nach heftigen Turbulenzen verlässt es die Wolke und landet wie geplant. Drei Monate später jedoch verlässt dasselbe Flugzeug wieder die Wolke und will landen wie geplant – wird allerdings von Kampffliegern zum Militärflughafen geleitet und unter Quarantäne gestellt.

Und dann? Hervé Le Tellier hat an alles gedacht! In der ersten Hälfte des Buches lernen wir einige Passagier:innen des Flugs kennen. Blake ist Auftragskiller. Joanna ist Anwältin und hat gerade von ihrer Schwangerschaft erfahren. Victor war Schriftsteller, er hat sich an dem Morgen das Leben genommen, an dem er das Manuskript seines neuen, letzten Buches „Die Anomalie“, an seine Verlegerin geschickt hat. Der Pilot des Flugs, dem ein aggressiver Krebs diagnostiziert wird und der bald schon im Krankenhaus dem Tod entgegengeht. Und so weiter, durch viele Leben, alle detailliert ausgedacht. Und alles, von dem wir lesen, ist bisher passiert. Bis jetzt, bis zum Juni 2021.

Dann passiert das Unglaubliche und alle diese Menschen gibt es zwei Mal. Die „Double“, die zum zweiten Mal landen, sind die Menschen, die im März in Paris den Flug angetreten haben und für die keine drei Monate vergangen sind. Sie sind also sie selbst, nur fehlen ihnen drei Monate ihres Lebens. Joanna war noch nicht schwanger. Victor ist noch am Leben, hat „Die Anomalie“ aber noch nicht geschrieben. Der Pilot David, der auch dann schon Krebs hat, aber nun eine weitere Chance. Und Blake.. tja Blake ist Blake. Und tut, was Blake tut. Und hier wird es phänomenal.

Endlich endlich endlich ein Buch, in dem alles zu Ende gedacht wird. Le Tellier zieht sich nicht aus der Affäre von Dingen, von denen er keine Ahnung hat. Er hat sich die Ahnung angeeignet und schreibt jetzt, was in so einer Situation passieren kann. Wie gehen die Geheimdienste, die Präsidenten, die Versicherungen, die Medien, die Partner:innen, die Kinder, die Arbeitgeber, die religiösen Führer und natürlich die duplizierten Menschen selbst damit um? So etwas gab es noch nie und was heißt das jetzt? Dieses Buch wird mit jeder Seite besser. Und das, wo es doch schon großartig beginnt. Ich bin so sehr begeistert, dass ich ein paar Seiten mit meiner Meinung dazu füllen möchte. Im Kern bleibt aber einfach zu sagen: Lesen, lesen, lesen!

Übersetzt von Romy und Jürgen Ritte

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